1932-33 Berlin

Marcel Perincioli  berichtet in den «Aufzeichnungen» 1986:
«Nach verschiedenen für hiesige Bildhauer in Stein ausgeführten Arbeiten und versehen mit dem erstmals ausgeschriebenen De-Harries-Stipendium fuhr ich im Herbst 1932 nach München. Die dortige Akademie machte jedoch zu dieser Zeit auf mich einen tristen Eindruck, und auch die zu Tausenden in den städtischen Anlagen herumsitzenden Arbeitslosen bedrückten mich sehr. Es war gerade nach dem Brand des Glaspalastes, bei welchem eine grosse Anzahl Bilder von Cuno Amiet zerstört wurde.

Über Augsburg, Nürnberg und Dresden – alles damals noch wunderschöne Städte – erreichte ich das sehr lebendig wirkende Berlin. Diese Stadt und die berühmte Berliner «Schnauze» gefielen mir sofort. Ein Besuch der Akademie als ordentlicher Schüler wurde mir jedoch verwehrt, da ich nur Geld für maximal ein halbes Jahr zur Verfügung hatte. Nirgendwo anders empfand ich den Geldmangel so grausam. Aus diesen Gründen belegte ich nun Kurse in der staatlichen Kunst- und Gewerbeschule in Charlottenburg, wo ich meine finanziellen Möglichkeiten nicht im voraus preisgab.

Professor Otto und seine Klasse, in der Mitte Marcel Perincioli
Professor Otto und seine Klasse, in der Mitte Marcel Perincioli

Bei Professor Otto konnte ich die Kurse für Aktmodellieren und Porträt besuchen und auch verschiedene Seminare in der Akademie belegen. Da ich die kurze zur Verfügung stehende Zeit gut nutzen wollte und auch meine Mitschüler zur Arbeit antrieb, erhielt ich bald den Übernamen «Mussolini». Nirgends sonst erhielt ich so viel Zeichen der Freundschaft wie damals in Berlin, die sogar den Krieg überdauerten. Leider war das Arbeitsklima in der Schule wegen des aufkommenden Nazitums nicht gut und der Kunst nicht förderlich. Die gegensätzlichen politischen Ansichten der Studenten wurden immer krasser, und wenn die Nazi-Anhänger wegen eines späteren Treffens in Uniform zum Unterricht erschienen, waren sie ungeniessbar.

Ich erlebte dann auch noch die Machtübernahme durch die Nazis! Als ich mich an jenem Abend nach Arbeitsschluss nach Hause begab, marschierte stramm vor mir der berüchtigte Nazi-Sturm 33 Richtung Stadtzentrum. Die Atmosphäre war sehr angespannt, ganz besonders an der quergelegenen Wallstrasse, wo die Nazis von der dort stehenden Menschenmenge beschimpft wurden. Die Machtübernahme selber interessierte mich nicht, und ich blieb zu Hause.

Zwei Tage später sassen wir im Akademie-Restaurant am Steinplatz, als plötzlich Militärmusik erklang. Draussen bot sich uns ein eindrückliches Bild, denn alle Berliner Nazis marschierten in Sechserkolonnen in Richtung Charlottenburg. Es handelte sich um einen Gedenkmarsch für den Vorfall an der Wallstrasse, bei welchem es in einer nächtlichen Schiesserei zwei Tote – darunter auch den Sturmführer – gegeben hatte. Der lange Zug war von Hunderten von Schupos, bewaffnet mit Karabinern, und vielen Bereitschaftsautos mit Scheinwerfer begleitet, welche die lichtlosen Häuserfronten ableuchteten.

Die Nazis führten neben ihren Fahnen und Standarten auch die sogenannten Blutfahnen vom früheren Münchner Aufstand mit sich. Sehr viel Volk war anwesend, und jedes Mal wenn eine Hakenkreuzfahne vorüberzog, schrie alles «Heil» und «Hitler» und hob den Arm zum «deutschen» Gruss. Da ich den Gruss verweigerte, wurde ich «Judenschwein» tituliert.

Durch die Machtübernahme veränderte sich die mir lieb gewordene Atmosphäre Berlins sehr, und ganz besonders bedrückte mich das spurlose Verschwinden unseres demokratisch denkenden Professors der Bildhauerei. Aus Protest hissten Studenten auf unserem Schulgebäude die rote Fahne, und einzelne bewaffneten sich sogar. Es wurde mir dabei richtig ungemütlich.

Im grossen Sportpalast hatte ich mir den Agitator Goebbels angehört, diesen wirklich genialen und teuflischen Redner. Um in den Saal zu gelangen, musste man durch eine Reihe aufmerksam dreinblickender Nazischläger Spiessruten laufen, was nicht gerade angenehm war. In dem bis auf den letzten Platz belegten grossen Sportpalast wurde zwecks Stimmungsmache ununterbrochen Militärmusik gespielt. Dazu standen auf dem Podium unbeweglich SS-Formationen in absolut erstarrter Stellung – ein für Schweizer unmögliches Bild untertänigster Haltung.

Plötzlich begann der Einmarsch der Standarten und des Fahnenwaldes – ein an sich durch seine straffe Durchführung beeindruckendes Schauspiel. Alles im Saal erhob sich und sang das Deutschlandlied. Als Goebbels das Wort ergriff, brandete ihm bei gewissen Höhepunkten seiner Rede ungeheurer Beifall entgegen, welchem sich scheinbar auch der letzte Zauderer nicht verschliessen konnte.

Nach allen diesen Vorkommnissen glaubte ich, es sei für mich das Beste, die Stadt möglichst schnell zu verlassen. Ich hatte keine Lust, an den nun einsetzenden, auch für mich verbindlichen Ertüchtigungskursen teilzunehmen. Nach einem Abschiedsessen mit zwei Kollegen begleiteten mich diese mit der Stadtbahn zum Anhalter Bahnhof. Plötzlich loderte ein mächtiger Feuerschein über dem dunklen Berlin. Überall auf den Strassen hörte man die Feuerwehren in diese Richtung rasen. Von der hoch fahrenden Stadtbahn aus konnten wir den Ort des Feuers nicht ausmachen, und erst in Frankfurt erfuhr ich vom Brand des Reichstagsgebäudes.

In die Schweiz zurückgekehrt staunte ich, wie Hitler hier viele Sympathisanten, ja auch Kredit hatte. Bei meinem Aufenthalt in Deutschland hatte ich sehen können, was da vor sich ging, und was schliesslich zu erwarten war, wenn beispielsweise ein vorüber ziehender Nazi-Sturm «Siegreich wollen wir Frankreich schlagen» als Marschlied sang. Eigentlich hatte bei all diesem Treiben der Nazis auch der Naivste merken können, was diese trotz allen Friedensbeteuerungen wirklich im Sinn hatten.»